Diagnosequalität
Eine von 10 medizinischen Diagnosen ist falsch - so schätzt die Weltgesundheitsorganisation (WHO). Auch deshalb sie Thema «Improving diagnosis for patient safety» zum Schwerpunkt des World Patient Safety Day 2024 gemacht. Nicht jede falsche Diagnose ist ein Diagnosefehler, und nicht
jede falsche Diagnose hat auch unmittelbar negative Folgen für Patientinnen und Patienten. Gleichwohl gehen zahlreiche Schätzungen - und auch unsere eigene Forschung - davon aus, dass statistisch betrachtet jeder Mensch im Laufe seines Lebens eine bedeutsame Fehldiagnose erleiden wird. Die Ursachen von Fehldiagnosen zu verstehen und Wege zu finden, die Diagnosequalität zu
steigern, ist das Ziel unserer Arbeit.
Ursachen und Forschung
Gründe für Diagnosefehler sind vielfältig. Mangelnde Kommunikation zwischen Mediziner*innen, unzureichende Untersuchungsverfahren oder auch eine fehlerhafte Dateninterpretation sind nur einige der Faktoren, die zu Fehldiagnosen führen können. Durch das Verstehen dieser Ursachen
können wir Strategien entwickeln, um die Diagnosequalität zu verbessern und die Patientensicherheit zu erhöhen.
Verbesserung der Diagnosequalität
Wir bieten Kolleginnen und Kollegen sowie der interessierten Öffentlichkeit Werkzeuge und Ressourcen, um die Qualität von Diagnosen messbar zu machen und deren Genauigkeit zu steigern. Unsere Methoden basieren auf neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen und praktischen Erfahrungen aus dem medizinischen Alltag. Gemeinsam arbeiten wir daran, Diagnosefehler zu
minimieren und die Patientenversorgung weltweit sicherer zu gestalten.
Insgesamt beeinträchtigen diagnostische Fehler schätzungsweise 12 Millionen Amerikaner pro Jahr; der Umfang des Problems in der Schweiz oder Deutschland ist nicht bekannt. Diagnosefehler verursachen wahrscheinlich mehr Schaden bei Patienten als alle anderen medizinischen Fehler zusammen. Verpasste Diagnosen führen auch zu höheren Gesundheitskosten - durch die Behandlung von kränkeren Patienten mit fortgeschritteneren Krankheiten; durch übermässigen Einsatz unnötiger, teurer diagnostischer Tests; als Folge von Haftungsansprüchen; und mit den hohen Kosten für Behandlungen von Krankheiten, die die Patienten tatsächlich nicht haben. Es wird geschätzt, dass allein in den USA jährlich 100 Milliarden Dollar oder mehr aufgrund ungenauer Diagnosen verschwendet werden.
Für den Prozess der Diagnosestellung ist es charakteristisch, dass er mit grosser Unsicherheit verbunden sein kann. Daher sollte zur Beurteilung eines Falles nicht nur das Ergebnis beurteilt werden. Nicht jede falsche Diagnose ist ein Diagnosefehler. Vielmehr geht es im Kern um die Frage: Hätten die beteiligten Fachpersonen zum betreffenden Zeitpunkt mit dem jeweiligen Kenntnisstand zu einer anderen Einschätzung kommen und andere Entscheidungen treffen müssen? Diese Frage liegt dem international anerkannten “SaferDx”-Framework zugrunde. Dieses Modell hat für die Beurteilung von verspäteten oder falschen Diagnosen das Konzept der „verpassten Gelegenheiten“ („missed opportunities“) etabliert. Es unterscheidet die beiden Dimensionen „Verpasste Gelegenheit“ (ja/nein) und „Schädigung durch verzögerte oder falsche Behandlung“ (ja/nein), sodass sich grundsätzlich vier Kombinationen ergeben können. Die Schädigung aufgrund einer verpassten diagnostischen Gelegenheit ist als potentiell vermeidbar zu bewerten. Ein typisches Beispiel für eine “verpasste Gelegenheit” ist eine Untersuchung (z.B. Labor oder Bildgebung), die zwar korrekt beauftragt wird, der eintreffende, relevante Befund aber gar nicht berücksichtigt wird, z.B. weil er falsch abgelegt oder vergessen geht. Das Kriterium der “verpassten Gelegenheiten” ist auch hilfreich, um Rückschau-Fehler in der Beurteilung von Diagnosen zu reduzieren.
Eine Befragung von Hausärztinnen und Hausärzten in der Schweiz ergab, dass Diagnosefehler aus ihrer Sicht mit einem sehr hohen Schadenspotential assoziiert werden - seltener als andere Probleme, aber dann mit gravierenden Folgen.
Auch für Patientinnen und Patienten hat die Bedeutung der Diagnosesicherheit in den letzten Jahren zugenommen: Die repräsentative Bevölkerungsbefragung "TK Monitor" in Deutschland berichtete 2023, dass 61% der Befragten es für wahrscheinlich halten, selbst einmal eine “falsche Diagnose” zu bekommen. Dieser Wert ist in den vergangenen Jahren gestiegen und liegt erstmals über dem selbst eingeschätzten Risiko, sich “mit Krankenhauskeimen zu infizieren” oder einen “Medikamentenfehler” zu erleiden.
Literatur
Die National Academies of Sciences, Engineering und Medicine der USA schätzen, dass wir alle im Laufe unseres Lebens einen diagnostischen Fehler erleben werden, manche mit verheerenden Folgen. Drei (von weltweit 6) prospektiven Studien zur Frage der Häufigkeit von Fehldiagnosen wurden in der Schweiz durchgeführt: alle drei ermittelten für Notfallpatienten Fehldiagnoseraten von zwischen 10-15%.
Diagnostische Fehler betreffen schätzungsweise 12 Millionen Amerikaner und verursachen wahrscheinlich mehr Schaden bei Patienten als alle anderen medizinischen Fehler zusammen. Schätzungsweise sterben jedes Jahr zwischen 40.000 und 80.000 Menschen allein in US-amerikanischen Krankenhäusern aufgrund diagnostischer Fehler, und wahrscheinlich erleiden mindestens ebenso viele eine dauerhafte Behinderung. Neuere Schätzungen gehen sogar von 250.000 jährlichen Toten oder Patienten mit bleibenden Schäden durch Fehldiagnosen in den USA aus. Die Gesamtzahl aller klinischen Konsequenzen ist wahrscheinlich viel höher. Auch in den drei Schweizer Studien zum Thema könnte gezeigt werden, dass Fehldiagnosen die Sterblichkeit von Notfallpatienten substanziell erhöhen.
Die Diagnose umfasst sowohl menschliche als auch systemische Elemente. Das explosive Wachstum an medizinischen Erkenntnissen und neuen Technologien ist ein zweischneidiges Schwert: Es macht die Diagnose genauer, aber gleichzeitig auch komplexer. Aus menschlicher Sicht unterliegen Ärzte denselben kognitiven Einschränkungen und Vorurteilen wie wir alle in unserem täglichen Leben. Die Komplexität in der Medizin ist heute erstaunlich. Es gibt mehr als 10.000 bekannte Krankheiten und mehr als 3.500 Labortests, aber nur eine geringe Anzahl von Symptomen im Vergleich dazu. Daher kann jedes Symptom Dutzende, wenn nicht Hunderte von möglichen Ursachen und Testoptionen haben.
Gesundheitssysteme verknüpfen Hunderte oder Tausende verschiedener Prozesse, Praktiken, Verfahren und Technologien. Obwohl diese Systeme mit Blick auf die Patientensicherheit entwickelt werden, erhöht die blosse Anzahl an Schnittstellen das Risiko von Missverständnissen und anderen Schwierigkeiten entlang des Weges.
Ja, aber Fehldiagnosen sind ein bedeutender Faktor für Haftungsansprüche in allen Fachgebieten. Häufig betroffen sind primäre Versorgungsbereiche wie Notfallmedizin und Allgemeinmedizin, wohl auch weil es so viele Kontakte in diesen Bereichen gibt, aber auch weil Patienten frühzeitig im Verlauf einer sich entwickelnden Krankheit gesehen werden (wenn ihre Symptome weniger offensichtlich sind und zugrunde liegende Krankheiten schwerer zu diagnostizieren sind).
Nein. Tatsächlich machen drei Hauptkrankheitskategorien - vaskuläre Ereignisse, Infektionen und Krebs - etwa drei Viertel aller Behinderungen und Todesfälle aufgrund diagnostischer Fehler aus. Seltene Krankheiten werden sicherlich falsch diagnostiziert und können zu langen diagnostischen Reisen für Patienten führen, aber Fehldiagnosen häufigerer Krankheiten wie Schlaganfall, Sepsis und Lungenkrebs betreffen viel mehr Patienten.
Insgesamt lässt sich aber konstatieren, dass die Forschung zu Fehldiagnosen in Europa und der Schweiz in den Kinderschuhen steckt. Neben den im Abschnitt Werkzeuge dargestellten Möglichkeiten wäre vor allem erheblich mehr Forschung und Forschungsförderung nötig, um die Ursachen von Fehldiagnosen besser zu verstehen, Diagnosequalität genauer messen zu können und geeignete Interventionen zu entwickeln und zu testen.
Siehe Abschnitt "Methoden"
Hier finden Sie eine kleine Auswahl unserer wissenschaftlichen Publikationen zum Thema Diagnosequalität